Von Sven Kerwath
“Hinsetzen!” ruft eine Stimme von oben. Ich kann nicht gemeint sein, denn ich sitze Backbord auf dem Zodiac und halte mich an einem der Drahtseile fest, an dem das Boot neben der Bordwand der Polarstern in der Luft baumelt. Sobald das Zodiac die Meeresoberfläche ungefähr 3 Meter tiefer erreicht hat, hängen wir vorsichtig den riesigen Kranhaken aus.
Das restliche Team klettert über die Lotsenleiter, einer Art Strickleiter, hinunter in das schwankende Boot. Dieses Manöver verlangt beim ersten Mal eine gehörige Portion Mut, da das Boot sich selbst bei verhältnismäßig ruhiger See schon um einen Meter auf und ab bewegt. Nach dem Aushaken des Kranhakens wird der Motor gestartet. Leinen los und wir sind bereit unseren heutigen Auftrag zu erfüllen: Filmaufnahmen von Salpen in ihrem natürlichen Habitat und Salpen für physiologische und ökologische Experimente an Bord der Polarstern zu fangen. Wir haben nur ein kurzes Wetterfenster, bevor der eisige antarktische Wind den Einsatz im Zodiac unmöglich macht. Aufgrund der extremen Bedingungen ist das Tauchen in der Antarktis nur unter erheblichem logistischen Aufwand möglich. Bei Wassertemperaturen von bis zu -1,5°C und Lufttemperaturen von bis zu -7°C, die durch den „Wind Chill Faktor“ auch zu -28°C werden, ist der Schutz vor Kälte oberste Priorität.
Unter dem 7 mm dicken Trockenanzug trage ich drei Paar Socken und zwei Lagen Polarunterwäsche. Bevor es ins Wasser geht, werde ich innerhalb von etwa 20 min für den Tauchgang ausgerüstet. Zwei Taucher, ein Einsatz- und ein Sicherungstaucher, werden zuerst mit einer Signalleine gesichert, über die auch mit dem Boot kommuniziert werden kann. Dann werden der Reihe nach Bleigurt, das Jacket mit Tauchflasche und Lungenautomaten, Flossen, Handschuhe und Tauchcomputer angezogen. Zum Schluss kommt noch die Vollgesichtsmaske mit zwei alternativen Atemreglern, falls eine der Luftversorgungen einfriert. Die Ausrüstung wiegt über 40 kg. Sicht und Bewegungen sind extrem eingeschränkt und man kann sich gut in die Lage eines gestrandeten Wals hineinversetzen. Die Maske ist mit Kopfhörern und Mikrophon ausgestattet, so daß der Taucher jederzeit mit der Einsatzleitung kommunizieren kann. Nach einem ausführlichen Sicherheitscheck wird dem Einsatztaucher ins Wasser geholfen. Im Wasser sind die Strapazen der aufwändigen Vorbereitung erstmal vergessen und weichen einem Gefühl der Euphorie: tauchen im Antarktischen Ozean!Unser letzter Tauchgang war wunderschön und sehr erfolgreich zugleich: Wir konnten im offenen Ozean, etwa 5 Meilen nördlich von Elephant Island, zum ersten Mal überhaupt die Salpenart Salpa thompsoni, das zentrale Forschungsobjekt dieser Expedition, in ihrem natürlichen Habitat filmen. Der spiegelglatte Ozean, das Panorama von Elephant Island und der Blas der Finnwale, die um uns herum den antarktischen Krill jagten, sorgten für eine atemberaubende Kulisse. Zudem hatten wir eine Stelle gefunden, an der eine Salpenaggregation oberflächennah trieb und uns so die Filmaufnahmen ermöglichte. Die Auswertung
der Filmmaterials gab uns neue Rätsel auf: Das typische Pumpverhalten war weder bei Einzel- noch bei Kettenstadien der Salpen gut zu erkennen. Die rhythmische Muskelkontraktion der Salpen dient gleich drei verschiedenen Funktionen: Der Fortbewegung, durch den Rückstoß des ausgestoßenen Wassers, der Atmung und der Aufnahme von Nahrungspartikeln. Waren die Salpen schon verletzt und sind deshalb so nahe der Oberfläche getrieben, oder war die stark verlangsamte Pumprate eine Reaktion auf den hohen Partikelgehalt des Oberflächenwassers, welches bei übermäßiger Aufnahme zur Verstopfung des Filterapparats im Schlund (Pharynx) der Salpe führen kann? Der Film entfachte nach dem abendlichen Seminar eine rege Diskussion unter den Fachleuten und wir wurden beauftragt, weitere Filmaufnahmen von Salpen zu erstellen. Das Wetter bietet uns heute eine gute Gelegenheit, jedoch erleben wir auf dem Weg zur Tauchstelle eine Überraschung: Eine enorme Aggregation von Salpen nahe eines Felsenriffs. Die Brandung rauscht an die kargen hochaufragenden Felsen, von denen ein paar Eselspinguine herunterschnattern. Der beißende Geruch von Guano steigt mir in die Nase, doch ich habe keine Zeit für Nebensächlichkeiten. Ich greife nach der Schöpfkelle und schöpfe vorsichtig eine Salpe nach der anderen aus dem Wasser. Dies ist vom schwankenden Boot aus nicht ganz einfach und viele Tiere entkommen. Aber uns hat das Jagdfieber gepackt, denn wir wissen wie dringend diese Salpen für die Experimente an Bord der Polarstern benötigt werden. Diese unorthodoxe Fangmethode garantiert einen besonders guten Zustand der Tiere. Unser Erfolg hat aber auch seinen Preis: Die Beschaffung von Salpen ist heute oberste Priorität und das Tauchen wird verschoben. Wie sich herausstellt, ist dies genau die richtige Entscheidung.
Der Wind nimmt stetig zu und bald verwandelt sich der Ozean in eine Buckelpiste aus steilen Wellen mit schäumenden Kämmen. Die Rückfahrt zur Polarstern, die im tiefen Wasser außerhalb des schlecht kartierten Flachwasserbereichs wartet, wird ganz schön holprig. Nach einer dreiviertel Stunde sind beide Zodiacs mitsamt frierenden, aber wohlbehaltenen Insassen an Bord. Unsere Ausbeute, circa 200 Salpen verschiedener Größe, wird sogleich fachgerecht von den Wissenschaftler/innen versorgt und unter den verschiedenen Gruppen aufgeteilt. Von langen Ketten, bestehend aus einem Dutzend kleiner Einzeltiere (Blastozoid Stadium), in den weißen Eimern nur an runden dunkelroten Mägen zu erkennen, bis zu den über 10 cm großen röhrenförmigen Einzeltieren (Oozoid Stadium) ist alles dabei und wird umgehend in die Laborcontainer abtransportiert. Nach einer weiteren halben Stunde sind die Boote entladen und der heutige Einsatz ist beendet. Durch die Schlepperei der zentnerschweren Tauchausrüstung sind wir klitschnaß geschwitzt. Nur meine Hände tauen erst langsam wieder auf. Ich hatte im 0,6 Grad kalten Wasser zwei Stunden lang mit bloßen Händen die Salpen geschöpft. Schnell raus aus dem Taucheranzug, oft nur mit Hilfe eines Kollegen möglich, und ab geht es unter die Dusche. Dieser Teil der Forschung unterscheidet sich doch deutlich von Labor- und Computerarbeit, Vorlesungen halten oder Veröffentlichungen schreiben.
Als Taucher Tiere in ihrem natürlichen Habitat zu beobachten, gibt einen einmaligen Einblick der über die Analyse von Daten hinausgeht. Dies ist unerlässlich, um dieses einzigartige Ökosystem zu verstehen und zu erhalten.